Episode 1 "Klingelstreich"
Mia wohnt am Rande des zweitgrößten Bahnhofes der Stadt. Vor kurzer Zeit haben sie ein Rießenrad auf die unbebaute Fläche hinter den Gleisen gestellt
und das leuchtet nun jeden Abend direkt in Mias Zimmer. Mia hat ein schönes Zimmer: sie hat es selbst dekoriert, die Möbel sind ein wilder Mix aus den
verschiedensten Stilen. Ganz besonders mag sie ihre bunten Vorhänge aus dem Versandwarenkatalog und ihren kleinen Nierentisch, der neben dem Sofa steht
und auf dem sie ihre Bücher stapelt. Wenn die Sonne durch den bunten Stoff flutet fühlt Mia sich manchmal wie im Urlaub, das ganze Zimmer mit den
hellen Holzmöbeln leuchtet dann so warm. Und Gott sei Dank steht auch noch ein großer, alter Baum vor dem Fenster, der im Frühling sogar weiße kleine
Blüten trägt. Ob es eine Kastanie ist? Mia und ihr Vater haben schon gerätselt, aber Kastanien jedenfalls trägt er nicht. Und die Rinde ist typisch vom
Straßendreck angegriffen. Wie ein Camouflage Muster. Sonst ist nicht viel los im Viertel, unten an der Straße gibt es einen Tabakladen, der auch
Getränke verkauft und täglich bis spät nachts geöffnet hat, an der Trambahn ist ein kleiner Park auf dem die Jugendlichen aus den großen Häusern mit
den kleinen dunklen Balkonen tagsüber sitzen und Zigaretten rauchen oder mit dem Fußball kicken. Manche fahren auch Skateboard, das kann man am Besten
auf den Treppen zum Supermarkt an der großen Kreuzung machen aber leider ist dies, wie so vieles, verboten. Auf dem Boden liegen überall Kippen, an den
Straßenecken sammeln sich die gelben Plastikmüllsäcke und die Gehwege sind mit Kaugummi verklebt. Das Haus in dem Mia mit ihren Eltern lebt hat einen
kleinen Gemeinschaftsgarten, der leider in erster Linie als öffentliche Hundetoilette genutzt wird. Besonders im Hochsommer kriecht der Gestank der
Hundehäufchen penetrant nach oben zu Mias Fenster. Auf den Garagen gegenüber prangen viele bunte Schmierereien und Bilder. Mia gefallen die
bunt-flimmernden Mülltonnenhäuschen, auch die Malereien Richtung Bahnhof sieht sie sich immer gerne an, wenn sie zur Bahn durch die dunkle Unterführung
läuft in der besonders im Winter einige Obdachlose ihr Lager ausbreiten. Ganze Burgen aus Matratzen und alten Sofas werden dort aufgebaut aber Mia hat
gehört, dass die Stadt dies nicht mehr lange dulden möchte und die auch meist dem Alkohol zugeneigten Leute bald vertreiben möchte. München soll eine
saubere Stadt werden. “Da könnten sie ja mal vor unserem Haus anfangen” denkt sich Mia und macht es sich mit ihrem neuen Roman auf ihrem Bett
gemütlich. Heißer Tee dampft aus ihrer Tasse und das Pausenbrot, welches sie heute Vormittag nicht gegessen hat liegt neben ihr auf dem Zimmerboden.
Die Eltern sind heute mit Freunden zum Italiener gegangen, da hat Mia die ganze Wohnung für sich und genießt die Ruhe. Ruhe?
Naja sieht man von den Güterzügen ab, welche kontinuierlich durch den Bahnhof rauschen und ignoriert man die Schreie, die abends vom Vorplatz der
Gleise zu Mia nach oben dringen könnte man wirklich meinen heute wäre ein ruhiger Abend. Als das Mädchen, Mia hat vor kurzem ihren fünfzehnten
Geburtstag gefeiert, gerade das Buch aufgeschlagen hat klingelt es an der Tür. Mia schreckt auf, geht aber langsam zur Türe. Sie betätigt die
Sprechanlage, denn sie wohnen im fünften Stock. “Hallo? Wer ist da?” sagt Mia, es ist bereits 21:30 Uhr. Keine Antwort, dafür aber ein zweites
Klingeln, dann doch das Rauschen aus dem Lautsprecher: “Haaallooo? Wir sind vom Zirkus und wollen fragen Essen für die Tiere. Darf ich raufkommen?“ Mia
seufzt „ Ja, ich mache auf.“ und sie drückt den Knopf an der Sprechanlage, macht eine halbe Umdrehung und greift zu ihrem Geldbeutel, der an der
Garderobe auf dem kleinen Tisch liegt. Gestern noch war sie für ihre Mutter in den kleinen Lebensmittelladen unten am Eck gegangen und hatte sich als
Belohnung drei Salzlakritzkugeln mit Brause gekauft. Sie müsste also eigentlich etwas Münzgeld einstecken haben. Mia hat einen bunten Geldbeutel aus
dem Second-Hand Laden an der Hauptsraße, mit kleinen Straßsteinchen bestickt. Sie öffnet die Tür und blickt in das Treppenhaus. Das Treppenhaus ist
schmutzig und grau, ein mit grünem Plastik umkleidetes Geländer erstreckt sich neben der engen und muffigen Treppe, mit schwarzem Filzstift steht an
der vergilbten Wand „Fuck You All“ geschrieben. Er kommt. Atmet schwer, als er die Stufen doppelt nimmt und dann einfach vor ihr steht. Seine
schwarzen, wie frisch geschnitten aussehenden Haare sind an der Narbe zur Stirn durchfeuchtet, er trägt ein weißes Hemd und eine zerrissene blaue
Anzughose. ußerdem eine fein zierlich bestickte Weste in dunkelblau-orange und einen groben Ledergürtel mit einer silbernen Lasche. Sein Gesicht ist
zart und dicke, schwere Augenbrauen zeichnen sich über den stechend dunklen Augen ab. Er trägt einen leichten ebenfalls tief schwarzen Drei-Tage Bart.
Mia sieht ihn einen Augenblick an und bewundert auch, dass er Mitte April ohne Schuhe vor ihr steht. „Hallo, „ sagt sie freundlich und zückt ihren
Geldbeutel. Sie kramt in dem kleinen Kleingeldfach mit dem zerfledderten Reißverschluß und findet 2, 70 Euro. „Hier, bitte.“ Sie streckt ihm den Arm
entgegen und fängt an zu lachen:“ Was für Tiere habt ihr denn mit dabei?“ und der Junge, er ist
wahrscheinlich zwei Jahre älter als Mia, lächelt und sagt: „Oh wir haben Pferde, Vögel und drei Hunde. Außerdem noch einen Ziegenbock, einen Esel und
eine trächtige Katze. Vielen Dank, Frau….“ „ Tabori-Kleinmeier. Ich trage einen Doppelnamen, weil meine Mutter bei der Hochzeit nicht auf ihren
Mädchennamen verzichten wollte.“ sagt Mia. „Ah ja, so etwas kennen wir nicht. Bei uns nimmt die Frau meistens den Namen des Mannes an. Meine Familie
heißt Lupei, das ist rumänisch und bedeutet die mit den Wölfen leben. Ich bin Andreij. Sehr nett, dass du hast ein bisschen Spende für unsere Tiere.“
Mia fällt der etwas auffallende Satzbau des Jungen auf und sie denkt gleich an ihre Freundin Lisa, die unbedingt Deutschlehrerin werden möchte und
später an der Uni Germanistik oder Deutsch als Fremdsprache studieren will. „Öh ja, ich selbst gehe nicht gern in den Zirkus, aber ich mag Tiere.“
antwortet sie Andreij und wippt auf ihren Füßen auf und ab,als ihr Blick schon zum zweiten Mal direkt in die dunkelbraunen, fast schwarzen Augen des
jungen Rumänen trifft. „Wollen Sie einmal vorbeikommen? Wir haben unsere Wagen unten auf dem großen Parkplatz an der Grundschule geparkt und die Zelte
aufgeschlagen. Es waren schon viele Kinder nach der Schule bei uns um die Tiere zu streicheln und meine Familie grillt gerne. Ich lade Sie ein.“ „Okay,
das ist sehr nett. Ich habe morgen ohnehin noch nichts vor, ich komme vorbei.“ „Okay, dann so um 15 Uhr?“ erwidert Andreij und jetzt erst hat er sich
von seinem kurzen Sprint in den fünften Stock erholt, er nimmt das Geld und betrachtet nun Mia mit aufmerksamen Blick. Mia trägt ihren Hausanzug, eine
alte Jogginghose und ein Pink-Floyd T-Shirt mit dem Cover von „Wish you were here“. „Cooles Shirt.“ Sagt Andreij und dreht sich energisch um. Beim
ersten Treppenabsatz dreht er sich noch einmal um und ruft: “Bis morgen also, ich freue mich!“. Und weg ist er. Mia schließt die Türe, aber erst nach
ungefähr einer halben Minute denn sie ist noch ganz überrascht über ihre eigene Spontanität. Nun ist sie also für morgen auf dem großen Parkplatz neben
der Grundschule verabredet. Die Stadt hatte erst kürzlich dort auch ein kleines Klettergerüst errichtet, auf dem die Grundschulkinder nach dem
Unterricht oder in der Pause ihre Brotzeit machten oder sich lauthals brüllend lustig verrenkten. Wieder zurück in ihrem Zimmer legt Mia ihre
Lieblingsmusik auf, das erste Album von Sia und merkt, dass sie unweigerlich grinst. “ Andreij. Andreij aus Rumänien. Das interessiert mich schon, wie
er und seine Familie zusammen mit den Artisten und Tieren durch das Land reisen. Ich muss selbst auch etwas zum Grillen mitnehmen, vielleicht mache ich
einen großen Salat und kaufe auch selbst ein wenig Fleisch. Fleisch ist teuer.” denkt Mia und schiebt den langen in den schönsten Farben bedruckten
Vorhang zur Seite und blickt aus dem Fenster. Niemand bewegt sich unten auf der Straße. Kein junger Wanderarbeiter, kein Andreij mit oder ohnne Hund
und, erstaunlicherweise, ohne Schuhe auf dem noch kalten Kopfsteinpflaster. “Warum hat er keine Schuhe, ob er keine hat?” denkt Mia noch kurz vor dem
Einschlafen und ein paar Stunden später ist auch schon der nächste Tag, der Samstag mit der Zirkusfamilie. Mia zieht nach einer längeren Dusche ihr
neues Oberteil mit dem beigen Spitzenkragen an und benutzt ganz unbewusst einen Hauch mehr Parfum als sonst, nachdem sie auch noch ihre
Lieblingscordhose aus dem Schrank gezogen hat. Sie trägt auch einen goldenen kleinen Ring im rechten Ohr. Eigentlich hat sie mehrere Ohrlöcher, es
gefällt ihr aber nicht mehr auch mehrere Ohrringe gleichzeitig zu tragen, außerdem verliert sie regelmäßig ihren Schmuck und kauft deswegen schon extra
nur billigen Modeschmuck in der Drogerie. Auf den Bänken, die am Kiesweg der am Parkplatz vorbeiläuft stehen liegen oft leere Pizzaschachteln, weil der
Italiener am Sportplatz und am Freibad auch ganz in der Nähe ist. Mia und ihre Eltern wohnen wohl so eine halbe Stunde davon entfernt und Mia will die
Tram nehmen. “Oder den Bus?” denkt sie und nimmt noch ihre Tasche samt Geld, denn sie muss ja auch noch am Supermarkt vorbei um das Fleisch zu kaufen.
Also verlässt Mia das Haus. Hinab durch das Treppenhaus und hinaus durch die Grünanlage, in welcher die Nachbarn Wäsche aufhängen und vereinzelt Kinder
auf der kleinen Wiese spielen. Es ist Frühling und die Bäume tragen allesamt bereits ihre prallen Knospen, manche sind bereits aufgebrochen und zeigen
ihre Blüten in dem schönsten weiß oder hellrosa. Das Gras erscheint frisch und satt grün, Krokusse sprießen aus dem Boden hervor. Erst einmal will Mia
zum Supermarkt, genauer an die Fleischtheke. Auf den Salat hat sie verzichtet. Also geht Mia die Hauptstraße entlang Richtung Trambahnstation, vorbei
an dem kleinen Park als ihr ein junger Kerl etwas hinterherruft: “Hey Mia, da sieh einer an. Was machst du heute?” Es ist Phillip von gegenüber, alle
nennen ihn nur Phil den Starken, weil er sich einmal mit Neonazis angelegt hat die eine ausländische Familie vor der Wohnanlage belästigt hatten. Phil
hat die Schläger vertrieben und seitdem hat er eben den Spitznamen “Phil der Starke”. Mia mag ihn nicht besonders, obwohl sie diese Aktion natürlich
schon cool findet. “Ich bin verabredet, will in den Supermarkt. Und du?” ruft Mia zurück, bleibt jedoch nicht einmal stehen sondern geht schnell
einfach weiter an den Bänken vor denen Phil steht vorbei. Der Junge springt zu Mia herüber und Mia riecht das billige Rasierwasser des Jungen mit der
schweren, speckigen Lederjacke. “Was machst du später, hast du Lust einen vor dem Supermarkt zu kippen? Ein Bier? Jonas und Tom sind auch mit dabei und
vielleicht kommt auch noch Jule.” “Oh nein, er will schon wieder etwas mit mir unternehmen” denkt Mia und antwortet: “Och du.....ich bin heute
Nachmittag schon verabredet. Tut mir leid aber viel Spaß dann heute.” und sie macht Anfänge weiterzugehen, Phil hatte sie ausgebremst. “Was machst du
denn? Mit wem trifft sich die junge Dame?” fragt Phil und stellt sich direkt vor Mia, die unruhig wird und sich anschließend einfach losreißt, schnell
weitergeht und zurückruft: “Das geht dich gar nichts an Phil. Ich gehe die Zirkusfamile von dem Grundschulparkplatz kennen lernen und Tiere anschauen.
Unten am Parkplatz. Ich glaube die Familie kommt aus Rumänien und lebt in Wohnwagen und Zelten. Und sie haben Tiere dabei....” “ Was?” erwidert Phil
stutzig “ Was willst du denn mit denen? Also gut dann pass auf dich auf und viel Spaß.” Mia lächelt sich im Umdrehen noch einmal zurück und biegt links
in den Tulpenweg ein. Sie säumt ein Wohnviertel mit mehreren kleinen Bäckereien und den Altglascontainern und da erblickt sie auch schon die große
Straße wieder, an dem der Supermarkt gelegen ist. Mia fährt die Rolltreppe hinunter in den Markt, krallt sich einen Einkaufskorb und geht stur vorbei
an dem Käse und dem Gemüse, direkt zu der großen gläsernen Fleischtheke. “Was darf`s sein?” fragt die Verkäuferin mit den lila gefärbten Haaren und der
Tätowierung am linken Arm freundlich, aber sichtlich ein wenig genervt. “Zwei Nackensteaks und drei marinierte Schweinespieße bitte.” sagt Mia und als
sie das Fleisch in dem Korb hat holt sie noch grüne Paprika, ein paar Tomaten und Schafskäse. “Oliven sind mir zu teuer.” denkt das Mädchen und geht
zur Kasse. Die Tasche ist schwer als sie wieder auf die helle Straße hinaustritt und Richtung Trambahn späht, sie will doch Tram fahren und das letzte
Stückchen vor zur Schule zu Fuß gehen. Also ein Stück geradeaus, vorbei an der Gruppe Alkoholikern, die unter der Werbetafel stehen und über das Gleis.
Nach nur drei Minuten schon kommt die Tram und Mia steigt ein.